Über Silke Ettling

Silke Ettling ist Ethnologin, seit fast 25 Jahren als Interkulturelle Trainerin und Coach im Gesundheits- und Sozialwesen unterwegs, hat einen Lehrauftrag am Institut für Interkulturelle Kommunikation der LMU und ist vom Thema „Interkulturelle Kompetenz“ heute immer noch so begeistert wie am ersten Tag.

Über die Episode

In dieser spannenden Folge vom CULTiTALK tauchen Georg Wolfgang und sein Gast Silke Ettling tief in das Thema „Interkulturelle Kommunikation und Kompetenz im Gesundheitswesen“ ein. Silke Ettling ist langjährige interkulturelle Trainerin, Coachin und Beraterin und seit über 25 Jahren im Gesundheits- und Sozialbereich tätig. Das Gespräch legt einen besonderen Fokus auf die Herausforderungen und Chancen, die die kulturelle Vielfalt im Krankenhausalltag – besonders vor dem Hintergrund von Fachkräftemangel und Internationalisierung – mit sich bringt.

Zu Beginn führt Georg Silke Ettling als Expertin für interkulturelle Kompetenz ein. Sie arbeitet mit internationalen Fachkräften, hält Vorträge, coacht Teams und war bis vor kurzem auch Dozentin. Ihr Schwerpunkt: Sensibilisierung für kulturelle Unterschiede, insbesondere im Gesundheitswesen. Ihre Expertise ist breit gefächert und reicht von Integration über interkulturelles Onboarding bis hin zu Vorträgen für Führungskräfte.

Warum ist interkulturelle Kompetenz gerade im Gesundheitswesen relevant?

Das Gesundheitswesen ist vermutlich einer der internationalsten Arbeitsbereiche. Nicht nur Mitarbeitende, sondern auch PatientInnen und deren Angehörige kommen aus unterschiedlichsten kulturellen Kontexten. Das sorgt dafür, dass Vielfalt zum Alltag gehört und klassische „deutsche“ Verhaltensmuster längst nicht mehr die einzigen sind, an denen man sich orientieren kann. Kommunikation spielt dabei eine Schlüsselrolle, denn emotionale Ausnahmesituationen wie Krankheit, Angst oder Trauer verstärken die Tendenz, gewohnte, kulturell geprägte Muster an den Tag zu legen.

Silke beschreibt, wie sich das Personalsetting in den vergangenen Jahren gewandelt hat. Während früher vielleicht ein oder zwei Teammitglieder international waren, ist es heute in manchen Krankenhäusern umgekehrt: Hier sind deutsche Mitarbeitende in der Minderheit, und die Teams setzen sich aus Menschen zahlreicher Herkunftsländer zusammen.

Kultur – was ist das überhaupt?

Silke – studierte Ethnologin – definiert Kultur als „gemeinsames Wissen“ einer Gruppe. Dieses gibt Orientierung für Denken, Fühlen und Handeln. Sie beschreibt Kultur als einen Korridor sozial akzeptierten Verhaltens, innerhalb dessen individuelle Unterschiede möglich sind. Wer sich aber außerhalb dieses Korridors bewegt – zum Beispiel sehr laut oder im Vergleich zu still trauert – fällt in der Gesellschaft auf und wird schnell bewertet oder verurteilt. Am Beispiel der Trauerkultur zeigt Silke, wie unterschiedlich Normen gelebter Emotionalität sein können: Während lautstarke Trauer in Deutschland auffällt, gilt in anderen Kulturen gerade das als angemessen.

Wichtig: Die Zuschreibungen bleiben nicht neutral, sondern werden emotional – und häufig negativ – aufgeladen. Wer etwa starke Schmerzen sichtbar macht, wird in deutschen Teams als „überempfindlich“ gesehen, zurückhaltendes Verhalten wird übersehen. Die Folge: Missverständnisse, Fehldiagnosen, falsche Zuordnungen im Team.

Nationalkultur versus Unternehmenskultur

Georg führt aus, wie sich sein persönlicher Blick auf interkulturelle Begegnungen – u. a. während seines Studiums und Praktikums in China – entwickelt hat. Besonders kritisch beleuchten die beiden das Prinzip der klassischen „Checklisten“ im interkulturellen Training, nach dem Motto „Vermeide dies und tue das“. Einigkeit herrscht darüber: Solche Listen sind wenig hilfreich, wenn es nicht um den Kontakt mit einer (vermeintlich) homogenen Nationalkultur, sondern um den Arbeitsalltag in multinationalen Teams geht.

Stattdessen braucht es ein Grundverständnis von Kultur und ihren unsichtbaren Regeln. Silke gibt Beispiele aus dem Krankenhaus: In Deutschland werden Ruhe und Ordnung im Krankenhaus hoch geschätzt. In anderen Kulturen steht jedoch Gemeinschaft und Präsenz der Großfamilie für Genesung. Deshalb kann es passieren, dass ausländische Patientinnen sehr viel mehr Besuch bekommen – oder, aus anderer Perspektive, dass deutsche Patientinnen das als störend bewerten.

Was bedeutet Perspektivenwechsel?

Ein zentrales Anliegen im Training von Silke ist es, die eigene Perspektive zu reflektieren und die der anderen als gleichwertig zu akzeptieren. Werte wie Respekt, Ehrlichkeit oder Fürsorge existieren überall – sie werden jedoch unterschiedlich gelebt und ausgedrückt.

Als Beispiel nennt Silke den Unterschied zwischen autonomiezentrierten und beziehungsorientierten Kulturen. In Deutschland steht die Selbstständigkeit hoch im Kurs: Kinder sind vergleichsweise früh selbstständig unterwegs, werden zur Eigenverantwortung (Melden, Nachfragen, Aufgaben übernehmen) erzogen – das geht bis in die Arbeitswelt. In anderen Kulturen zählt hingegen, ein „gutes Mitglied“ der Gruppe zu sein. Hier sind Hierarchien oft wichtiger, Eigeninitiative wird nicht unbedingt gefördert. Kommen diese Unterschied zusammen, resultiert das in Missverständnissen: Deutsche Führungskräfte empfinden internationale Teammitglieder als „passiv“ oder „unselbstständig“, während diese sich hilflos fühlen, weil sie mehr Anweisungen erwarten.

Wahrnehmung, Zuschreibungen und gruppendynamische Effekte

Das Gespräch zeigt, wie tief Stereotype verankert sind: Schnell werden Verhaltenseigenheiten einer ganzen Kultur oder Personengruppe zugeschrieben – ob beim Thema „die Afrikaner*innen“, „die Muslime“ oder anderen. Dabei wird die individuelle Verschiedenheit, aber auch die enorme interne Vielfalt übersehen.

Georg ordnet das Phänomen als „Ingroup/Outgroup“-Mechanismus ein: Die eigene Gruppe wird aufgewertet, die andere abgewertet – ein damals vielleicht evolutionär hilfreiches, heute aber oft problematisches Muster, das sich besonders deutlich im gesellschaftlichen Diskurs zeigt.

Kommunikation und Konflikt im kulturellen Kontext

Ein weiteres großes Thema: Die Art und Weise, wie (zwischen)menschliche Konflikte gehandhabt werden. Während in sehr beziehungsorientierten Kulturen Harmonie, indirekte Kommunikation und Bewahrung des Gruppenfriedens dominieren, ist in Deutschland oft direkte Auseinandersetzung und offenes Austragen von Meinungsverschiedenheiten üblich. Diese Unterschiede führen in gemischten Teams häufig zu Frust, falschen Zuschreibungen („faul, unzuverlässig, respektlos“ vs. „ignoriere mich, führe schlecht“). Hier ist Wissen und Sensibilisierung essenziell.

Diversität als Chance – aber wie?

Divers zusammengesetzte Teams sind heute Realität, gerade im Krankenhaus. Aber Diversität darf nicht nur eine „Checkliste“ von Personen sein. Wirklich divers wird ein Team erst, wenn Unterschiedlichkeit als Ressource gilt – und nicht als Störung. Voraussetzung dafür ist die konsequente Gleichwertigkeit aller Menschen – unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Meinung oder anderen Diversitätskriterien.

Silke verweist auf Studien, nach denen ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft (etwa ein Viertel) hinter Vorstellungen von Ungleichwertigkeit steht – bewusst oder unbewusst. Das zeigt sich im politischen Klima ebenso wie in Alltagssituationen. Hier setzt gute interkulturelle Arbeit an: Erst durch Selbstreflexion, das Bewusstwerden der eigenen Vorurteile und die Offenheit gegenüber anderen Konzepten kann nachhaltige Diversität gelebt werden.

Georg ergänzt: Diversität beginnt nicht bei der Zusammensetzung, sondern bei der Haltung – bei der Bereitschaft, Interpretation statt Bewertung zu üben, sich also aktiv zu fragen: „Was könnte die andere Person gemeint haben? Was ist die Intention?“

Praktische Trainings: Selbstreflexion und Perspektivwechsel

Wie sieht so ein Perspektivwechsel aus? Silke schildert Übungen, die sie in Trainings einsetzt. Zum Beispiel: Eine Person schaut im Vorstellungsgespräch auf den Boden – die Annahme im deutschen Kontext: schüchtern, unsicher, demotiviert. Aber: In vielen Kulturen ist es respektvolles Verhalten, Hierarchie nicht direkt ins Gesicht zu blicken. Solche Aha-Erlebnisse entlasten das eigene Erleben und helfen im Alltag, (falsche) Zuschreibungen zu vermeiden.

Auch für Führungskräfte und im täglichen Miteinander ist es wichtig, sich regelmäßig zu fragen: „Was wäre meine erste Interpretation? Gibt es noch andere Möglichkeiten?“ So entsteht eine Kultur, in der Konflikte, Fehler oder Unverständnis weniger stressen und Entwicklungen möglich sind.

Fazit: Interkulturelle Kompetenz als Schlüsselfaktor

Im Kern sind sich beide einig: Interkulturelle Kompetenz lebt von der Bereitschaft, sich selbst zu reflektieren, Vielfalt auszuhalten und Unterschiedlichkeit als Chance zu begreifen. Werte wie Gleichwertigkeit, Respekt und Fürsorge sind universell – und die Grundlage für erfolgreiche, diverse Teams.

Silke Ettling bringt es auf den Punkt: „Das Ziel ist nicht, kulturelle Unterschiede abzuschaffen. Das Ziel ist zu verstehen und sich darauf einzulassen – so profitieren am Ende alle: Teams, Führungskräfte und nicht zuletzt die Patient*innen.“

Zum Abschluss

Diese Folge CULTiTALK bietet tiefe, praxisnahe Einblicke in das Thema Kultur, Diversität und Teamarbeit und ist ein Plädoyer für mehr Selbstreflexion, Empathie und Offenheit im Umgang miteinander. Wer mit Menschen arbeitet – egal ob im Krankenhaus oder in anderen Organisationen – findet hier wertvolle Impulse, um kulturelle Vielfalt nicht nur auszuhalten, sondern aktiv als Ressource und Bereicherung zu nutzen.